Donnerstag, 5. Juli 2007

Der Enthusiast

Seitdem ich beim Friseur in einem Journal gelesen habe, daß Enthusiasmus eine Krankheit ist, die häufig als Vorstufe des manischen Irreseins auftritt, entdecke ich verräterische Symptome auch mehr und mehr bei mir selbst. Das gilt ganz besonders auf Reisen. Der Enthusiast trägt eine Art göttlichen Funken in sich („en theos“, Gott innen, ist der etymologische Ursprung des Wortes) und empfindet jeden neuen Eindruck, jede neue Begegnung als entscheidend und schicksalhaft und wendet sich ihnen mit großem, kindlichem Interesse zu. Einzelnen Enthusiasten gelingt es, den Absturz in das Irresein zu vermeiden. Sie werden dann in der Regel amerikanischer Präsident, wie Clinton, der in dem Artikel als ganz typischer Enthusiast geschildert wird. Andere, wie mein Großvater Erwin Bohle, werden Prediger des Evangeliums und tragen die Botschaft, daß das Leben interessant und lebenswert ist, weil ein lebendiger Gott im Himmel es mit seinem eigenen, ewigen Enthusiasmus begleitet, bis in die letzten und dunkelsten Winkel der Erde.

Meine eigene Version des Enthusiasmus geht in die Richtung, daß ich die tiefen Eindrücke und unvergeßlichen Begegnungen auf Reisen da suche, wo sie eher zufällig entstehen – bei der Begegnung mit dem kleinen Beschneidungsfeier-Prinzen, dem Schuhputzer, den türkischen Kindern Muhammed, 11, Said, 7, und Kübra, 12, die neben mir mit ihren Kopftuchmüttern auf dem Hinterdeck eines Schiffes sitzen, dem Türken im Caféhaus, dem ich eine Runde Backgammon, hierzulande „Tavla“ genannt, abschwätze. Ich kann nicht lange warten, bis ich einen Nachbarn im Shuttlebus, im Warteraum und selbst in der Straßenbahn angesprochen habe. Alle sind wichtig, alle wollen von meinem göttlichen Funken berührt werden und mir den eigenen Funken zeigen, der möglicherweise, meistens, wie ich meine, auch in ihrem Herzen wohnt.


Baha, 7, frisch beschnitten, auf dem Weg zur Eyüp-Moschee


Schuhputzer in Kusteppe



Muhammed, Said, Kübra, auf dem Boot von den Prinzeninseln



Tavla auf der "Büyük Oda" (Prinzeninseln)


Am letzten Abend in Istanbul war es der zukünftige amerikanische Militärattaché in Aserbeidschan, der in der dicht gefüllten Tram neben mir stand und nach einer Station fragte. Wir kamen ins Gespräch, er gehörte zur Eliteeinheit der „Marines“, ein Mann mit einem offenen Gesicht, dem man aber auch das harte körperliche Training dieser Eingreiftruppe ansah. Er war in Ägypten stationiert und auf Kurzurlaub in Istanbul. Wie wir kam er gerade vom Fährboot zu den Prinzeninseln, und er hatte mich in dem türkischen Café dort Tavla spielen sehen, was ihm offenbar gefallen hatte.

Wir kamen ins Gespräch über die Liebenswürdigkeit der muslimischen Menschen – hier in der Türkei, in Ägypten und auch im Irak. Angesichts der konkreten Menschen in der Tram um uns herum fiel es mir leicht, ihm zu sagen, daß ich es als einen noblen Versuch der Amerikaner ansehe, auch im Irak freiheitliche und demokratische Verhältnisse wie in der Türkei zu schaffen Die Menschen dort wollen, nicht anders als wir alle, ihre Träume von einem Leben nach ihren eigene Plänen verwirklichen.

Er bestätigte das, auch wenn er die Entwicklung dort kritisch sah. Es seien Fehler gemacht worden, man habe zu früh auf die Zuverlässigkeit irakischer Organisationen vertraut. Aber daß man um der Menschen und um ihrer Hoffnungen und Wünsche willen den Amerikanern im Irak Glück wünschen muß, darüber waren wir uns einig.

Seine Station, Sultanahmet, war plötzlich da, und wir hatten kaum Zeit, uns zu verabschieden. Aber der Funke, der göttliche, er war wieder für einen Moment in der Luft gewesen. Oder irre ich mich?

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