Die kleine evangelische Freikirche, die Marias Vater vor vielen Jahren am Ort gegründet hat, trifft sich seit etwa einem Jahr wieder – wie ganz zu Beginn – in einem Zimmer des Hauses der Familie Ntemiris. Die vor etwa 40 Jahren errichtete Kapelle existiert nicht mehr. Das Eigentum daran lag bei einem Mitglied der Gemeinde, und man hatte es versäumt, testamentarische Regelungen zu treffen, um der Gemeinde ihre Rechte auf Dauer zu sichern. So wurde das Grundstück nach einem Erbfall an einen Fremden verkauft, der das Gebäude abreißen ließ. Nun hat Marias Bruder Andreas seine Wohnung aufgegeben und sie der Gemeinde bis auf Weiteres zur Verfügung gestellt. Diese Wohnung wiederum liegt im Haus von Bruder Josef, das hinten auf dem elterlichen Grundstück als Ferienhaus errichtet wurde.
Am gestrigen Sonntag trafen sich etwa 15 Leute hier, und irgendwie hatte man es organisiert, daß ein Übersetzer da war und ich als Bruder aus Germania predigte. Vermutlich war aber die Freude an meinem Orgelspiel auf der kleinen Elektronikorgel größer als die Freude an der Predigt. Maria hatte mich sogleich auch als Organisten eingeteilt, und es stellte sich heraus, daß ich die meisten Lieder kannte und ohne Noten mitspielen konnte. Abends in einem zweiten Gottesdienst haben wir dann fast nur noch gesungen, vom Old Rugged Cross bis When The Saints, alles in Griechisch.
Andreas (Marias Bruder), Alexis (Doktorand aus Patras), Nikolaus (Übersetzer, in der Ausbildung als Steuerberater), Irene (Marias Schwester), ich, Pavlos (Marias Bruder) und Niza, seine Frau
Hier ist, was ich der Gemeinde gesagt habe. Es ist ein wenig staccato geschrieben, damit der Übersetzer, der 21jährige Deutsch-Grieche Nikolaus, in Mannheim geboren, sich leicht einfinden konnte:
Die Bibel hat viele gute Ratschläge, wie man sich in einer konkreten Situation verhalten soll. Auch für meine eigene Situation heute gibt es einen solchen Ratschlag, ein Vorbild. Es kommt von dem Apostel Paulus. Er will eine fremde Gemeinde zum ersten Mal treffen, und er stellt sich deshalb in einem Brief an die Gemeinde erst einmal vor. Er sagt dabei: wenn ich euch besuche, dann möchte ich, daß etwas geschieht, was uns beide erfreut.
Römer 1,11+ 12
11 Denn mich verlangt sehr, euch zu sehen, damit ich euch etwas geistliche Gnadengabe mitteile, um euch zu stärken,
12 das heißt aber, um bei euch mitgetröstet zu werden, ein jeder durch den Glauben, der in dem anderen ist, sowohl euren als meinen.
Paulus benutzt hier im alten Griechisch das Wort „charisma“. Auch eure neugriechische Bibel hat an dieser Stelle dieses Wort. „pneumatika charisma“, das verstehen wir Deutsche auch, denn „pneumatisch“ ist auch bei uns etwas, was mit Geist, mit Luft arbeitet. „charisma“ sagen wir auch.
Welche Fähigkeit steckt in diesem besonderen Charisma, von dem Paulus spricht? Es ist die Gabe, daß wir uns gegenseitig trösten und stärken können, ich durch euren Glauben, ihr durch meinen.
Das ist ein erstaunliches Charisma, weil es eigentlich nach nichts Besonderem aussieht. Wir denken bei Charisma an größere Dinge, an Krankenheilung, an Prophetie, an besondere Gaben zur Führung von Menschen. Aber den anderen im Glauben stärken? Das ist doch eher etwas Alltägliches, oder nicht?
Erstaunlich ist auch, daß Paulus diese eher schlichten Worte am Anfang eines der wichtigsten Bücher der Bibel schreibt. Man weiß, daß viele Erneuerungen in der Christenheit mit dem Römerbrief begonnen haben. Martin Luther hat durch ihn entscheidende Gedanken bekommen, ebenso John Wesley, der Gründer der Methodisten. Paulus könnte also schreiben „Achtung! Ich schreibe Euch jetzt den Römerbrief! Paßt gut auf!“ Aber er sagt erst einmal ganz einfach: Ich komme, um mich an Eurem Glauben zu freuen, und ich hoffe, ihr freut euch an meinem.
Ich will heute dasselbe sagen: ich freue mich an eurem Glauben, freut euch an meinem! Von eurem Glauben weiß ich seit vielen Jahren. Maria hat mir immer wieder von eurer Gemeinde erzählt, hat mir erzählt, wie Marias Vater Georgos Ntemiris vor vielen Jahren angefangen hat, in der Bibel zu lesen, Fragen zu stellen, wie er Jesus gefunden hat und wie er vielen anderen Menschen zum Glauben geholfen hat. Mittlerweile sind seine Enkelkinder erwachsene Leute und viele von ihnen haben seinen Glauben weitergeführt. Ich weiß, daß es pistis / Glaube, elpis / Hoffnung und agape / Liebe bei euch gibt, und ich freue mich daran.
Und ich sage, daß pistis, elpis und agape auch in meinem Herzen leben und im Herzen der Geschwister aus meiner Gemeinde in Remscheid bei Köln. Wir sind etwa 300 Leute in einer Stadt mit 120.000 Einwohnern, das ist nicht viel, aber wir teilen Freude und Leid und sind gemeinsam unterwegs auf dem Weg zu unserem ewigen Vaterhaus. In den letzten Monaten hat uns bekümmert, daß fünf Frauen an Brustkrebs erkrankt sind, darunter zwei Frauen, die kleine Kinder haben. Das macht uns Sorgen, aber wir erleben auch die Kraft Gottes in der Art und Weise, wie uns diese Frauen ein Vorbild in ihrer Hoffnung werden. Und wir erleben die Liebe Gottes auf vielfältige Weise in unserem Leben.
Ich darf euch herzliche Grüße sagen von den Geschwistern in Remscheid, der Pastor weiß, daß ich heute hier predige, und ich werde Grüße von euch mitnehmen, wenn ich darf.
Ich habe gesagt, daß wir Deutsche viele Worte aus der griechischen Bibel verstehen, weil sie auch im Deutschen gebraucht werden – pneuma und charisma etwa. Was ich bei der Vorbereitung neu gelernt habe, in der ich mit Maria und Nikolaus auch die griechische Bibel aufgeschlagen habe, ist die Ähnlichkeit von charisma und charis. Im Deutschen sind es zwei unterschiedliche Worte Gnade / charis und Gabe / charisma, was bei uns nur heißt, daß es jemand gegeben hat. Bei euch ist klarer, daß es durch eine Gnade gegeben ist.
In der ganzen Welt haben die Christen Mühe damit, zu klären, welches Charisma nützlich und notwendig ist, um eine Gemeinde zu bauen. Manche Gemeinden spalten sich darüber. Vielleicht ist es gut, sich daran zu erinnern, daß der so wichtige Römerbrief dieses spezielle charisma, das charisma der Stärkung des Glaubens, an die erste Stelle setzt. Ja, eigentlich kennt der Brief sogar, abgesehen von ein paar kurzen Erwähnungen am Ende, fast nur dieses eine charisma. Laßt es uns ernst und wichtig nehmen und daran arbeiten, daß es unter uns reichlich vorhanden ist. Das ist mein erster Wunsch für euch.
Warum brauchen wir es überhaupt? Nun, die Briefe des Neuen Testamentes reden alle konkret von der Sorge, daß der Glaube kleiner wird, daß Menschen das vergessen, was sie in der ersten Liebe zu Jesus an Glaube, Liebe und Hoffnung gehabt haben und daß die Sorgen der Welt wie Unkraut wachsen zwischen den guten Pflanzen, die Gott in unser Herz gesät hat, und sie am Ende sogar überdecken. Der Glaube ist zunächst einmal etwas von gestern, etwas, was wir in unserer Vergangenheit sehr schön erlebt haben, von dem wir aber morgen nicht wissen, ob es in gleicher Weise hält wie gestern.
Welchen Glauben haben wir morgen? Werden wir Glauben halten, wenn der Doktor mit sorgenvollem Gesicht sagt, „ich habe eine unangenehme Nachricht für Sie“? Werden wir Glauben haben, wenn der Chef sagt, „die Abteilung, in der Sie arbeiten, wird aufgelöst“? Werden wir Glauben haben, wenn wir am Grab eines lieben Menschen stehen und nicht wissen, wie unser Leben jetzt alleine ohne ihn oder sie weitergehen soll?
Die ersten Hirten der jungen Gemeinden haben sich um den Glauben ihrer Menschen gesorgt, so wie der Herr Jesus sich um den Glauben seiner Jünger gesorgt hat.
Lukas 22
31 Simon, Simon! Siehe, der Satan hat euer begehrt, euch zu sichten wie den Weizen.
32 Ich aber habe für dich gebetet, daß dein Glaube nicht aufhöre. Und wenn du einst zurückgekehrt bist, so stärke deine Brüder!
Von Paulus hören wir, daß es ein einfaches Mittel gibt, den Glauben zu stärken: das Gespräch zwischen dem einen Christen und dem anderen. Ich möchte an dieser Stelle euch Griechen das Kompliment machen, daß bei Euch das Gespräch, der „Dialogos / Dialog“ wie wir auch in Deutsch sagen, sozusagen erfunden worden ist. Oder sagen wir, Sokrates hat als erster das Prinzip des Dialoges so formuliert: es gibt bestimmte Dinge, die Menschen nur unter der Voraussetzung erkennen, daß sie miteinander reden.
Von Sokrates gibt es das Bild der beiden Menschen in der Höhle. Sie sitzen mit dem Rücken zur Öffnung und sehen auf der Innenwand der Höhle die Schatten der Dinge, die sich hinter ihrem Rücken abspielen.
Sie müssen sich herumdrehen und ins Licht sehen, wenn sie die Wahrheit erkennen wollen, das ist klar. Aber wer sagt es ihnen? Sokrates sagt: sie haben nur eine Möglichkeit dazu: den „Dialog“. Sie müssen miteinander reden, nur über das miteinander Reden beginnt der Weg zur Wahrheit.
Manches, was Sokrates gedacht und gesagt hat, ist mit der griechischen Sprache, die ja die Sprache des Neuen Testamentes ist, obwohl sie nicht die Sprache Jesu war, auch in das Denken der Christen eingezogen. Paulus hat Sokrates, der 399 vor Christus gestorben ist, vermutlich gekannt und hat das von ihm übernommen, was richtig war. Und dazu gehört das Prinzip des Dialoges.
Wenn ich euch also noch eine zweiten Sache wünsche, dann den nicht endenden „Dialogos“ untereinander. Vermutlich ist es gar nicht nötig, euch das zu wünschen. Meine Frau sagte, hier im Ort würden sehr viele Dinge beredet, wenn die Menschen im Meer baden. Überall stehen beim Baden kleine Gruppen herum und reden, und wenn man aus dem Wasser kommt, braucht man keine Zeitung mehr zu lesen, man weiß schon alles.
Trotzdem ist es vielleicht eine gute Sache, wenn ihr Euch noch einmal neu ermutigen läßt, auch über Euren Glauben zu reden. Manchmal merkt man es ja erst viel zu spät, wenn im Herzen eines anderen der Glaube kleiner wird erlischt. Das soll nicht sein, redet also über den Glauben miteinander.
Und dann zum Schluß noch einmal: freut euch am Glauben der anderen. Von Maria weiß ich, daß Vater Georgos den Kindern den Sonnenuntergang über dem Golf von Patras zeigte und ihnen sagte, daß die Sonne nicht weggeht, sondern jetzt den Brüdern und Schwerstern hinterm Horizont leuchtet, die weiter weg wohnen, den Deutschen, den Engländern, vielen anderen. Er hat von diesen Geschwistern gewußt, hat sich daran gefreut, daß es sie gab. Freut ihr euch auch!
Ich habe später gelernt, daß es ein englisches Lied gibt, daß genau diesen Gedanken von Vater Georgos erzählt. Es ist ein Abendlied und heißt „Der Tag, den du Gott gegeben hast, geht zu Ende“. Und in der vorletzten Strophe heißt es dann
The sun that bids us rest is waking
Our brethren 'neath the western sky,
And hour by hour fresh lips are making
Thy wondrous doings heard on high.
Die Sonne, die uns sagt, daß wir schlafen sollen,
weckt die Geschwister unter dem westlichen Himmel
und jede Stunde neu machen frische Lippen,
daß deine wunderbaren Taten in der Höhe gehört werden.
Laßt uns mit dem Versprechen auseinandergehen, daß wir in Deutschland, wo die Zeit eine Stunde hinter eurer Zeit herläuft, eine Stunde länger an Gottes Güte denken und Gott loben, und dann sollen es die Engländer tun, und dann die Brasilianer, die Chilenen, die Leute in Alaska, in Japan, Singapur, Vietnam, Indien – bis endlich die Griechen wieder an der Reihe sind, eine Stunde vor uns. Sie alle bilden eine Kette des Lobes, eine Kette des Glaubens. Ich bin froh, daß ich heute ein neues Stück dieser Kette sehen durfte und danke euch dafür.
The day Thou gavest, Lord, is ended,
The darkness falls at Thy behest;
To Thee our morning hymns ascended,
Thy praise shall sanctify our rest.
We thank Thee that Thy church, unsleeping,
While earth rolls onward into light,
Through all the world her watch is keeping,
And rests not now by day or night.
As over each continent and island
The dawn leads on another day,
The voice of prayer is never silent,
Nor dies the strain of praise away.
The sun that bids us rest is waking
Our brethren 'neath the western sky,
And hour by hour fresh lips are making
Thy wondrous doings heard on high.
So be it, Lord; Thy throne shall never
Like earth's proud empires, pass away:
Thy kingdom stands, and grows forever,
Till all Thy creatures own Thy sway.