Als erstes möchte ich den Unterschied zwischen der Stadt mit rund
2 Millionen Einwohnern, in der ich 1971 für zwei Monate gelebt und gearbeitet habe, und der Stadt von heute verstehen lernen, die offiziell 10 Millionen Einwohner, inoffiziell sogar bis zu 20 Millionen Einwohner hat. Wo wohnen diese Menschen alle? Werden wir bei unserer geplanten Bootsfahrt auf dem Bosporus ein wenig von den neuen Millionenstädten sehen, die rund um das alte Istanbul entstanden sein müssen? Die Hügel am Ufer sind hier allerdings recht steil, und was ich bei meinem zweiten Besuch 1977 links und rechts der Autobahn nach Ankara als Stadterweiterungen gesehen habe, waren flache gecekondus, über Nacht (gece) provisorisch gebaute (kondu) Hütten, die dem Eigentümer das Recht gaben, an dieser Stelle dauerhaft zu wohnen. Vielleicht – hoffentlich – ist es deren Bewohnern mittlerweile gelungen, größere und stabilere Häuser zu bauen, vielleicht sind auch Stadtviertel mit höheren Mehrfamilienhäusern entstanden, die man dann also vom Bosporus aus sehen könnte.
Vielleicht bekomme ich über die Auskunft, wo und wie diese Menschen alle wohnen auch eine Antwort auf die Frage, die ich 1971 nicht beantworten konnte, nämlich wie sich in so viel urbaner Häßlichkeit ein so optimistisches, in gewisser Hinsicht sogar fröhliches Volk tummeln kann, das offenbar stolz ist, hier zu leben. Eine erste Antwort habe ich schon bei Orhan Pamuk gefunden, der die Unansehnlichkeit dieser Stadt mit großer Offenheit schildert, gleichzeitig aber auch erzählt, wie die Bewohner, die Istanbullus, einen Weg gefunden haben, damit fertig zu werden.
Es hilft ihnen dabei vor allem die geographisch sehr schöne Lage der Stadt. Sie ist das Ergebnis der natürlichen Dreiteilung durch den an seinem Übergang ins Marmarameer etwa 1500 m breiten Bosporus einerseits und durch die Flußmündung des Haliç im europäischen Teil andererseits, die eine an der Galatabrücke etwa 400 m breite natürliche Hafeneinfahrt bildet. In Zeiten der Sultansherrschaft, als von Istanbul aus das ganze östliche Mittelmeer verwaltet wurde, waren die verschiedenen Hügel der Stadt mit einer Vielzahl von schönen Häusern bebaut, in denen die Hofbeamten lebten, optisch beherrscht von den Moscheen der Stadt und den Palästen und Residenzen des Sultans.
Mit dem Niedergang des Sultanats und der Entstehung der Republik nach dem Ersten Weltkrieg verschwanden die herrschaftlichen Häuser nach und nach und wurden durch überwiegend häßliche mehrgeschossige Wohnbauten ersetzt. Was an repräsentativen Gebäuden übrig blieb, wurde vom Staat mehr recht als schlecht verwaltet, die Regierung zog ja nach Ankara um, kleinere öffentliche Gebäude aus der alten Zeit, Bade- und Bethäuser etwa oder Nebengebäude ehemaliger Paläste, verfielen dagegen. Ich erinnere mich an einen früher wohl einmal kunstvoll gebauten Pavillon in der Nähe meiner damaligen Bank, der mit einer eher zu einem Bunker passenden Stahltür dauerhaft verschlossen war und in einem kleinen verstaubten Garten hinter einem verrosteten Gitter dahindämmerte. Für mich war das wilde Durcheinander von Alt und Neu in dieser Stadt unverständlich, und es war von den Gebäuden und den krummen, schlecht unterhaltenen Straßen her nirgendwo schön, nicht einmal in einem folkloristischen Sinne.
Schön war allerdings der offenkundige Wille der in diesem Chaos lebenden Menschen, etwas aus ihrem Leben zu machen. Besonders die Kinder, die mit allem handelten, was zu ihrem schmalen Besitz gehörte, hatten es mir damals angetan. Sie setzten sich einfach auf die Straße, breiteten ihre zerlesenen Comic-Hefte zum Kauf aus und warteten zuversichtlich auf Kundschaft.
Ich erwarte, daß sie noch da sind, diese Kinder, auch die Schuhputzer und die Teeverkäufer, die ihren Samowar irgendwo in einem schmalen Hauseingang stehen hatten und von dort aus mehrmals täglich die Büros in ihrer Umgebung auf großen Tabletts mit Tee versorgten. Sie waren für mich die eigentlichen Helden einer Welt, in der man die Kunst beherrscht, mit ein paar Pfennig Stundenlohn zu überleben.
Vielleicht ist das am Ende, was ich hinter allem erwarte: noch einmal das wirkliche Leben zu sehen, das es überall auf der Welt in den Städten der sogenannten "dritten" Welt gibt, zu denen ich Istanbul immer gezählt habe. Es ist ein Leben ohne die Sicherheit der großen sozialen Systeme, ohne den Schutz einer über die Jahrhunderte eingespielten bürgerlichen Ordnung, ja auch ohne den Schutz eines Gemeinwesens, das sich etwa in der Form von Fußgängerampeln und Zebrastreifen gütig und väterlich zeigt.
Und vielleicht möchte ich wissen, worauf sich die "Tapferkeit des menschlichen Herzens" gründet, die alle diese Mißlichkeiten übersteht. Das Wort hat Peter Bamm für das alte Byzanz und das neue Istanbul geprägt, und in dieser Stadt ein „Denkmal“ dafür gesehen. Er erzählt in einem Reisebericht von 1955, wie auf den Trümmern dieser Stadt, dem „Schutt einer großen Vergangenheit“, die Menschen wohnen.
Sonntag, 24. Juni 2007
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